Sceptica
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texte von schriftstellerinnen
jelinek: (siehe 2008 im verlassenen)
[URL="http://www.elfriedejelinek.com/"]http://www.elfriedejelinek.com/[/URL]
von martin leidenfrost:
[B]Wir alle kommen aus Amstetten [/B]
Die österreichische Kleinstadt, in der Josef Fritzl sein Unwesen trieb, ist der Heimatort des Schriftstellers Martin Leidenfrost. Erst jetzt weiss er, wie nahe ihm das Grauen war.
In meinem Pass steht unter Eintrag sechs: «Geburtsort/Place of birth: Amstetten». Nun stellt man mir Fragen. Seit letztem Sonntag, seit man die niederösterreichische Bezirksstadt bei CNN fehlerfrei auszusprechen weiss. Seit Amstetten eine Chiffre des Grauens ist.
Ich habe mich zunächst von Amstetten distanziert. «Ich bin dort nur zufällig auf die Welt gekommen», gab ich zur Auskunft, «im nächstgelegenen Krankenhaus, aufgewachsen bin ich in Dörfern der Umgebung. Ausserdem lebe ich seit 1992 anderswo, in anderen Städten und Staaten.» Es war eine billige Ausflucht. Mein Vater, mein Bruder und meine Schwester arbeiten noch immer in Amstetten. Ich selbst habe dort meinen Zivildienst geleistet, in einem Altersheim, in einer Querstrasse der zu trauriger Berühmtheit gelangten Ybbsstrasse. Ich muss mit dem Velo oft an dem verborgenen Verlies vorbeigefahren sein.
Ich kannte den Mann nicht, den sie in der Gegend nur noch «den Fritzl» nennen und über den sie jetzt alle ihre persönliche Geschichte haben. Ein Rundruf bei meiner Familie hat genügt. Seither weiss ich, wie nahe wir ihm waren.
Mein kleiner Bruder, stellt sich heraus, hat mehrmals in Fritzls Haus übernachtet, in der Wohnung eines Kumpels. Auch das ist nichts Besonderes, das Haus hatte zwölf Mietwohnungen. Es sei ein «ganz normales Haus» gewesen, sagt mein Bruder.
Eine geschäftige Industrie
Ich habe nie zuvor über Amstetten nachgedacht. Amstetten, das war für mich bislang eine Funktion: ein Bahnhof zum Umsteigen, ein Ort rascher Erledigungen, eine horizontale Aneinanderreihung von Supermärkten und Arbeitsplätzen.
Bei Amstetten denke ich an das Recyclingunternehmen, für das mein Vater seit Jahrzehnten arbeitet, an Halden zerquetschter Autos. Ich denke an die Werkhalle, in der ich vor dem Studium jobbte; morgens wehte lockender Keksgeruch von der benachbarten De-Beukelaer-Fabrik herein. Die gelben Schalungsplatten, an denen ich damals bei Doka werkte, sind heute in aller Welt zu sehen. Mit ihnen wird gerade das höchste Gebäude der Welt, der Burj Dubai, gebaut. Die Amstettner Betriebe expandieren, sie bieten Arbeitsplätze in Hülle und Fülle. Amstetten funktioniert.
Bis letzten Sonntag wäre kaum jemand auf den Gedanken gekommen, Fotos von Amstetten zu machen. Es gibt keine einzige touristische Attraktion. Dabei ist die Stadt in einer schönen Landschaft gelegen, dem sanften Hügelland zwischen Donau und Voralpen, dem «Mostviertel».
Zwar haben viele Bauern die alten Obstbaumalleen abgeholzt, dafür wurden früher Prämien bezahlt. Doch in manchen Dörfern gelingt das Anknüpfen an Traditionen, im kleinen Umfang hat sich sanfter Tourismus entwickelt. Der Most, ein Apfelwein oder Birnwein wie Cidre und Poiré, lässt sich nun auf einer «Moststrasse» erwandern und in «Mostheurigen» kosten.
Amstetten selbst hat wenig Identität. Die Kleinstadt ist ohnehin in jenem Bundesland gelegen, Niederösterreich, das unter den teilweise tausendjährigen österreichischen Bundesländern die geringsten landsmannschaftlichen Gefühle weckt.
Kommt hinzu, dass der politische Bezirk Amstetten in Niederösterreichs äusserstem Westen liegt, die grösste Tageszeitung liefert in der Stadt einfach ihre Oberösterreich- Ausgabe aus. Das stört niemanden.
Wahrscheinlich sind die Leute nirgends so sehr Österreicher wie hier, Österreicher ohne vorgelagerte Identität.
Zusammengewürfelte Bevölkerung
Wenn ich an Amstetten denke, fallen mir Sätze ein, in denen der Ort als Gefäss erscheint. «Kommen wir rein?», «kommen wir durch?», «müssen wir durch?» Amstetten hat offiziell 23 000 Einwohner. Die Zahl trügt, denn beinahe die Hälfte lebt in administrativ eingegliederten Dörfern, die fünf bis acht Kilometer von der Stadt entfernt liegen. Das sind Dörfer wie Mauer, nunmehr bekannt durch die psychiatrische Klinik, in welcher die aus dem Verlies Befreiten abgeschirmt werden.
Mauer ist eine weitläufige Parkanlage aus Jugendstil-Pavillons, 1902 vom Kaiser eingeweiht. Franz Joseph soll bei der Gelegenheit gesagt haben: «Es muss schön sein, in Mauer ein Narr zu sein.» Bis letzten Sonntag hat in Amstetten vorab eines bewegt, das komplexe neue Verkehrsleitsystem. Es gibt nur wenige Ecken, in denen Amstetten wie eine Stadt aussieht, der Hauptplatz ist bloss eine geringfügige Ausbauchung der Hauptstrasse.
fortsetzung folgt
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