24 Jahre im Keller

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02.05.08, 09:57:16

Altlast

[quote]NEWS 18/2008 hat auf dem Cover ein (Jugend-)Foto von Elisabeth F. und zweier ihrer Kinder. Ohne Balken oder Verpixelung.[/quote][I]Heute[/I] vom Mittwoch (30.04.2008) hatte wie immer Werbung samt Rabatt-Gutschein für [I]News[/I]. Dort sind die Gesichter der Opfer verpixelt.
Sei hier nur so nebenbei bemerkt.
02.05.08, 12:57:18

Sceptica

texte von schriftstellerinnen

jelinek: (siehe 2008 im verlassenen)

[URL="http://www.elfriedejelinek.com/"]http://www.elfriedejelinek.com/[/URL]



von martin leidenfrost:

[B]Wir alle kommen aus Amstetten [/B]
Die österreichische Kleinstadt, in der Josef Fritzl sein Unwesen trieb, ist der Heimatort des Schriftstellers Martin Leidenfrost. Erst jetzt weiss er, wie nahe ihm das Grauen war.

In meinem Pass steht unter Eintrag sechs: «Geburtsort/Place of birth: Amstetten». Nun stellt man mir Fragen. Seit letztem Sonntag, seit man die niederösterreichische Be­zirksstadt bei CNN fehlerfrei aus­zusprechen weiss. Seit Amstetten eine Chiffre des Grauens ist.
Ich habe mich zunächst von Amstetten distanziert. «Ich bin dort nur zufällig auf die Welt gekommen», gab ich zur Aus­kunft, «im nächstgelegenen Krankenhaus, aufgewachsen bin ich in Dörfern der Um­gebung. Ausserdem lebe ich seit 1992 an­derswo, in anderen Städten und Staaten.» Es war eine billige Ausflucht. Mein Va­ter, mein Bruder und meine Schwester ar­beiten noch immer in Amstetten. Ich selbst habe dort meinen Zivildienst geleistet, in einem Altersheim, in einer Querstrasse der zu trauriger Berühmtheit gelangten Ybbs­strasse. Ich muss mit dem Velo oft an dem verborgenen Verlies vorbeigefahren sein.
Ich kannte den Mann nicht, den sie in der Gegend nur noch «den Fritzl» nennen und über den sie jetzt alle ihre persönliche Ge­schichte haben. Ein Rundruf bei meiner Fa­milie hat genügt. Seither weiss ich, wie nahe wir ihm waren.
Mein kleiner Bruder, stellt sich heraus, hat mehrmals in Fritzls Haus übernachtet, in der Wohnung eines Kumpels. Auch das ist nichts Besonderes, das Haus hatte zwölf Mietwohnungen. Es sei ein «ganz normales Haus» gewesen, sagt mein Bruder.
Eine geschäftige Industrie
Ich habe nie zuvor über Amstetten nach­gedacht. Amstetten, das war für mich bis­lang eine Funktion: ein Bahnhof zum Um­steigen, ein Ort rascher Erledigungen, eine horizontale Aneinanderreihung von Su­permärkten und Arbeitsplätzen.
Bei Amstetten denke ich an das Recyc­lingunternehmen, für das mein Vater seit Jahrzehnten arbeitet, an Halden zer­quetschter Autos. Ich denke an die Werk­halle, in der ich vor dem Studium jobbte; morgens wehte lockender Keksgeruch von der benachbarten De-Beukelaer-Fabrik he­rein. Die gelben Schalungsplatten, an de­nen ich damals bei Doka werkte, sind heute in aller Welt zu sehen. Mit ihnen wird ge­rade das höchste Gebäude der Welt, der Burj Dubai, gebaut. Die Amstettner Be­triebe expandieren, sie bieten Arbeits­plätze in Hülle und Fülle. Amstetten funk­tioniert.
Bis letzten Sonntag wäre kaum jemand auf den Gedanken gekommen, Fotos von Amstetten zu machen. Es gibt keine einzige touristische Attraktion. Dabei ist die Stadt in einer schönen Landschaft gelegen, dem sanften Hügelland zwischen Donau und Voralpen, dem «Mostviertel».
Zwar haben viele Bauern die alten Obst­baumalleen abgeholzt, dafür wurden frü­her Prämien bezahlt. Doch in manchen Dörfern gelingt das Anknüpfen an Tradi­tionen, im kleinen Umfang hat sich sanfter Tourismus entwickelt. Der Most, ein Ap­felwein oder Birnwein wie Cidre und Poiré, lässt sich nun auf einer «Moststrasse» er­wandern und in «Mostheurigen» kosten.
Amstetten selbst hat wenig Identität. Die Kleinstadt ist ohnehin in jenem Bundes­land gelegen, Niederösterreich, das unter den teilweise tausendjährigen österrei­chischen Bundesländern die geringsten landsmannschaftlichen Gefühle weckt.
Kommt hinzu, dass der politische Bezirk Amstetten in Niederösterreichs äussers­tem Westen liegt, die grösste Tageszeitung liefert in der Stadt einfach ihre Oberöster­reich- Ausgabe aus. Das stört niemanden.
Wahrscheinlich sind die Leute nirgends so sehr Österreicher wie hier, Österreicher ohne vorgelagerte Identität.
Zusammengewürfelte Bevölkerung
Wenn ich an Amstetten denke, fallen mir Sätze ein, in denen der Ort als Gefäss er­scheint. «Kommen wir rein?», «kommen wir durch?», «müssen wir durch?» Amstetten hat offiziell 23 000 Einwoh­ner. Die Zahl trügt, denn beinahe die Hälfte lebt in administrativ eingegliederten Dör­fern, die fünf bis acht Kilometer von der Stadt entfernt liegen. Das sind Dörfer wie Mauer, nunmehr bekannt durch die psy­chiatrische Klinik, in welcher die aus dem Verlies Befreiten abgeschirmt werden.
Mauer ist eine weitläufige Parkanlage aus Jugendstil-Pavillons, 1902 vom Kaiser ein­geweiht. Franz Joseph soll bei der Gelegen­heit gesagt haben: «Es muss schön sein, in Mauer ein Narr zu sein.» Bis letzten Sonntag hat in Amstetten vorab eines bewegt, das komplexe neue Verkehrsleitsystem. Es gibt nur wenige Ecken, in denen Amstetten wie eine Stadt aussieht, der Hauptplatz ist bloss eine ge­ringfügige Ausbauchung der Hauptstrasse.

fortsetzung folgt
02.05.08, 12:57:44

Sceptica

fortsetzung

Die paar Bürgerhäuser aus der vorletzten Jahrhundertwende erzählen wenig über den Charakter der Gemeinde. Die Zahlen erzählen mehr: Zu den 14 000 eigentlichen Amstettnern kommen im Alltag 11 000 Pendler und 2000 Schüler hinzu. Ich stelle fest, dass meine Familie typisch ist. Es lässt sich nicht leugnen, dass wir alle Amstett­ner sind.
Dieses undefinierte Gefäss einer Klein­stadt ist in vielerlei Hinsicht österrei­chischer Durchschnitt. Etwa zehn Prozent der Amstettner sind im Ausland geboren und geben eine andere Umgangssprache als Deutsch an. Wie anderswo auch, gibt es mittlerweile mehr Muslime als Protestan­ten. Achtzig Prozent der Einwohner sind freilich katholisch, doch die meisten Ar­beiter mögen die Kirche nicht sonderlich. Die Stadt ist seit langem sozialdemokra­tisch, aber von einem gewachsenen Klas­senbewusstsein kann keine Rede sein. Da­für ist die industrielle Tradition zu jung.
Der Amstettner Proletarier lebt ländlich, in einem Haus mit Garten.
Das ist alles nichts Besonderes. Nichts Besonderes ist, dass die verkehrsberuhigte Innenstadt verödet. Wenn die Jungen aus den Schichtbetrieben strömen, kehren sie gerne «beim Mackie» ein; die Jungmütter aus der Umgebung treffen einander in den Möbelhäusern «auf einen Plausch».
Die Schnellstrasse als Treffpunkt
Ort der Handlung ist das «Betriebsgebiet Amstetten West», eine mittlerweile vier­spurig ausgebaute Schnellstrasse, die auf Amstetten zuläuft. Diese von allerlei bun­ten Hallen gesäumte Strasse ist der eigent­liche Boulevard der Region. In den Krei­seln zeigen überlebensgrosse Mostbirnen an, dass man sich im Mostviertel befindet. Nichts Besonderes ist auch, dass Amstet­ten kaum über eine gewachsene Bürger­schaft verfügt. Österreich hat viele solche Orte. Mit der Bürgerschaft fehlt der Bür­gersinn, und die vielen flüchtigen Benutzer der Stadt fühlen sich nicht verantwortlich.
Trotz beträchtlichen Wohlstands kommt das Kulturleben nicht vom Fleck. Der einst vorzüglich sortierte Bahnhofsladen wich einer Wurstsemmelstation, in der Mehr­zweckhalle werden Musicals aufgeführt.
Wahrscheinlich spricht es Bände, dass Amstetten in dieser Woche weltweiter Aufmerksamkeit seinen Bürgermeister versteckt. Nachdem der seit Ewigkeiten re­gierende Sozialdemokrat einen unglückli­chen TV-Auftritt hingelegt hatte, wurde die Stadt vorwiegend vom Bezirkshaupt­mann vertreten, dem obersten Beamten des Bezirks Amstettens, einem schneidi­gen Konservativen.
Die Bezirke sind in Österreich die ein­zige Gebietsebene, deren Amtsträger nicht gewählt, sondern ernannt werden. Mögli­cherweise wird das Amt des Bezirkshaupt­manns gerade deswegen so sehr geachtet.
Oft habe ich erlebt, wie eine Veranstaltung erst durch das Auftauchen des Bezirks­hauptmanns den finalen Glanz erhielt. Wie sein Vorgänger trägt der Amtsinhaber den himmlischsten aller österreichischen Titel: Hofrat.
Es ist von Bedeutung in Zusammenhang mit dem monströsen Inzestfall, denn dieser Fall handelt von Autorität. Er hat meinen Glauben erschüttert, die Zeit autoritärer Väter sei auch in Österreich vorbei. Und nun dies: Josef Fritzl konnte sein Verbre­chen 24 Jahre lang betreiben, weil niemand seine despotische Autorität durchbrach.
Die respektierte Autorität des Bezirks­hauptmanns hatte noch vor einer Woche den besten Eindruck von ihm.
Ein unangenehmer Zeitgenosse
Die Tausenden von Fritzl-Geschichten, die nun in Amstetten kursieren, ergeben im Nachhinein ein anderes Bild. Sie beschrei­ben nicht den «gepflegten», «dynami­schen » und «perfekten» Verbrecher, von dem die ermittelnden Beamten sprechen.
Mein kleiner Familien-Rundruf hat ande­res zu Tage gefördert: Die Frau des Täters, welche die drei heraufgeholten Kellerkin­der erzog, nahm regelmässig an den Tref­fen des Pflegekreises teil, einer Beratungs­runde von Pflegeeltern. Die anderen Teil­nehmer hätten sich oft über Frau Fritzl lustig gemacht, weil sie gegen die Usancen ohne den Pflegevater erschien. Ihr Mann sei «im Geschäft», habe die Frau stets er­widert.
Ich erfahre, dass der Täter in meinem Heimatort das Gasthaus zur Post eine kurze Zeit lang gepachtet hatte. Die ihn dort antrafen, beschreiben ihn keineswegs als gepflegten Herrn, sondern als groben, herrischen Menschen «im Ruderleibchen und mit fünf Goldketten behängt». Er habe die Kellnerinnen so wüst befummelt, dass ihn der damalige Bürgermeister zur Rede gestellt habe. Das sei sein gutes Recht, habe Fritzl ihn angeschrien. Darauf habe der Bürgermeister ihm eine gescheuert.
Wenn das nur nicht alles Geschichten im Nachhinein wären! In Österreich fragen jetzt viele nach der Verantwortung der Be­hörden, durchaus zu Recht, aber auch das ist ein Zeichen der Staatsgläubigkeit. Wenn tatsächlich so viele einfache Bürger den Täter schon immer verdächtig fanden – wie wenig hätte gereicht, um das Verbre­chen früher zu beenden?
Das ist keine Frage an Amstetten, es ist eine Frage an mein Land, an uns und an mich. Wir werden weiter durch Amstetten fahren, wenn CNN wieder abgezogen ist.
Eine Zeit lang etwas bedächtiger, dann wie­der so schnell, wie es nur irgendwie geht.
* Martin Leidenfrost ist ein österreichischer Schriftsteller, er lebt und arbeitet im slo­wakischen Grenzort Devínska Nová Ves.
Sein Buch «Die Welt hinter Wien – Fünfzig Expeditionen» ist vor kurzem im Wiener Picus-Verlag erschienen.


02.05.08, 23:13:15

Walter Pöchhacker

Man sollte die Kirche im Dorf, und notfalls auch in Amstetten lassen:

Das Elternhaus meines Vaters liegt in einer Randgemeinde von Amstetten. Mein Onkel war dort Bauer und ich verbrachte viele Tage meiner Schulferien beim ihm. Ich habe viel von ihm gelernt. Vor allem was arbeiten bedeutet:

Früh aufstehen, Frischfutter mähen, Tiere füttern, Stall ausmisten, Getreide mähen, Heu und Stroh einlagern etc. Ich lernte auch Traktor fahren.

Um allfälligen Fragen vorzubeugen:
Nein, mein Onkel starb eines natürlichen Todes,
nein, ich habe auch keinen Keller!

03.05.08, 09:36:03

le amateur

Schlagzeile in der "heute"
"Beim Spaziergang, Sport, Essen: Überall kann der Tod lauern"
Was sagt der Promianwalt dazu. Oder ist es ihm auch lieber, wenn sein Klient schweigt (für immer?)
03.05.08, 23:35:03

Altlast

Ch. Feurstein war eben in Frank Elstners "Menschen der Woche" zu Gast. Die Zusammenstellung der Themen war wie üblich seltsam (Schauspieler macht Faxen, dann Feurstein und Nachbarin der Familie Fritzl, anschließend eine ausgemusterte Sängerin).

Feursteins Aussagen zum Thema Amstetten waren erstaunlicherweise gut und haben zum Nachdenken angeregt.
(70% der Deutschen und Österreicher halten Gewalt immer noch für ein zulässiges Erziehungsmittel. Keller- und Verliesszenarien werden in der Pornobranche nachgefragt. Etc.)
04.05.08, 19:40:31

Altlast

Frau Kampusch hat die "gespendeten" 25000 € bereits wieder eingenommen:
http://www.presseportal.de/pm/7847/1184281/rtl
Morgen, 05.05.2008 22.15 auf RTL.
05.05.08, 00:52:25

Sashila

@altlast

na ja, mühsam ernährt sich das Eichhörnchen.

05.05.08, 07:52:54

Altlast

[quote="Sashila"]na ja, mühsam ernährt sich das Eichhörnchen.[/quote]Gerechterweise sollte man nicht vergessen, daß NK noch keine andere Einnahmequelle hat, außer der Vermarktung ihrer Geschichte. Solange sie von den Medien dafür bezahlt wird, immer die gleichen Storys zu erzählen, warum nicht?
05.05.08, 10:09:11

le amateur

Es ist natürlich zu hoffen, und die Medien lauern insgeheim auch darauf, dass sich NKs "immer gleicher Text" im Lichte anderer "Texte" selbst dekonstruiert. Aber um diese kleinen Redundanzen, Verschiebungen, Auslassungen lesen zu können, muss man ganz genau hinschauen (und nicht wegschauen ;))
 
 
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