Kampusch-Entführer PriklopilZweifel an Selbstmord: Jurist legte 2010 Bericht vor
Freitag, 26.02.2016, 17:08
http://www.focus.de/panorama/welt/er-meldete-schon-vor-jahren-zweifel-an-hochrangiger-jurist-das-obduktionsgutachten-bei-priklopil-ist-voellig-unhaltbar_id_5317272.html
[...] Der Fall Kampusch beschäftigt wieder die Staatsanwaltschaft. Wurde ihr Entführer Wolfgang Priklopil ermordet? Eine entsprechende Anzeige hat der Bruder des damaligen Chefermittlers gestellt. Der ehemalige Präsident des Obersten Gerichtshofs, Johann Rzeszut, äußerte diesen bösen Verdacht schon vor Jahren – und will dafür auch Beweise haben.
Eine Strafanzeige hat den österreichischen Entführungsfall Natascha Kampusch wieder zurück ins Licht der Öffentlichkeit gerückt: Kampusch war 1998 im Alter von zehn Jahren von Wolfgang Priklopil entführt und danach jahrelang in seinem Keller festgehalten worden. Erst 2006 gelang Kampusch die Flucht. Am selben Tag wurde ihr Entführer von einem Zug überfahren: Selbstmord, lautete das Ergebnis der Ermittler.
Der Bruder des damaligen Sonderermittlers bezweifelt aber, dass Wolfgang Priklopil wirklich Selbstmord begangen hat. Deswegen stellte Karl Kröll jetzt Strafanzeige wegen Mordverdachts, wie Spiegel Online zuerst berichtete.
Karl Kröll ist nicht der einzige, der vermutet, dass Priklopil in Wirklichkeit ermordet wurde: Auch der ehemalige Präsident des Obersten Gerichtshofs Österreichs, Johann Rzeszut, bezweifelt seit Jahren die Selbstmord-Theorie. Mögliche Belege dafür legte er bereits im Jahr 2010 in einem ausführlichen Bericht an Abgeordnete des österreichischen Parlaments vor. FOCUS Online zeigt, welche Punkte Rzeszut und andere daran zweifeln lassen, dass sich Wolfgang Priklopil tatsächlich vor einen Zug warf.
[B]Punkt 1: Die Art der Verletzungen[/B]
Nach Ansicht des Juristen Rzeszut hätte Wolfgang Priklopils Leiche massiv von der Vorderfront des Zuges entstellt sein müssen, hätte er sich tatsächlich vor den fahrenden Zug geworfen. Die Vorderfront sei mit einer Art „Rechen“ bestückt gewesen, die einen Menschen hätten zerfetzen müssen. Priklopils Kopf wurde aber verhältnismäßig sauber abgetrennt. Die Vorwürfe präzisiert Rzeszut gegenüber „Spiegel Online“: Die Halsdurchtrennung und der oval gestanzte Knochenbruch in der rechten Scheitelgegend könnten nicht auf der Gleisstraße der Schnellbahn geschehen sein, so sein Urteil. Das Gutachten der Obduktion sei so somit „völlig unhaltbar“, so Rzeszut zu „Spiegel Online“. Seine Theorie: Priklopil sei schon tot gewesen, als der Zug kam. Jemand habe ihn im letzten Moment vor den Zug gelegt.
Ähnliche Vorwürfe erhob 2012 ein Bericht des Schweizer Boulevardportals „20min“, der sich unter anderem auf Bilder der Leiche Priklopils stützte. Hätte sich Priklopil vor den Zug geworfen, hätte aufgrund der Verletzungen viel mehr Blut austreten müssen, hieß es dort. Den Fotos zufolge habe Priklopil aber kaum geblutet. Der Kopf sei „fast intakt“, der Körper „wenig verletzt“ gewesen. Es sei kaum vorstellbar, dass eine Leiche nach einem Unfall mit diesem Bahntyp so aussehe wie die Priklopils, zitierte „20min“ Bahn-Experten.
[B]Punkt 2: Der Abschiedsbrief[/B]
Priklopils Geschäftsfreund Ernst H. übergab der Polizei eine Abschiedsbotschaft, die er am Tag des Selbstmords vom Kampusch-Entführer bekommen haben will. Er habe den Brief dessen Mutter übergeben sollen. Das Seltsame: Auf dem Zettel steht nur ein einziges Wort: „Mama“. Dieses Verhalten widerspreche „jedweder Lebenserfahrung“, schrieb Jurist Rzeszut schon in seinem Bericht aus dem Jahr 2010. Ein erwachsener Mann schreibe als Abschiedsgruß mehr.
Natascha Kampusch, Wolfgang Priklopil, Johann Rzeszut, Selbstmord
dpa Ernst H., der Freund des Kampusch-Entführers Wolfgang Priklopil, bei einer Pressekonferenz am 30.8.2006
Rzeszut zitiert zudem ein graphologisches Gutachten aus dem November 2009, das nahelegt, dass Priklopil den Zettel nicht selbst schrieb. Das Gutachten haben keinen Anhaltspunkt für eine Urheberschaft des Wolfgang Priklopil feststellen können, „dafür aber ‚einzelne aufzeigenswerte graphische Übereinstimmungen‘ mit der Handschrift des befreundeten Geschäftspartners“ Ernst H.. Die ermittelnde Staatsanwaltschaft habe aus dem Gutachten aber keine Schlüsse gezogen, so Rzeszut.
[B]Punkt 3: Der nicht befragte Zeuge[/B]
Laut „20min.ch“ gab es einen neutralen Zeugen des Priklopil-Todes: Ein Zugbegleiter, der nach der Notbremsung ausstieg, um nach einem möglichen Opfer zu sehen. Er habe Priklopil gefunden und hätte nach Ansicht von „20min“ Angaben darüber machen können, in welchem Zustand die Leiche war. Die Polizei habe den Zugbegleiter aber nie befragt.
[B]Punkt 4: Keine Untersuchung auf Gift[/B]
Sonderermittler Franz Kröll, der sich 2010 das Leben nahm, monierte kurz nach Priklopils Tod, dass der Leiche keine Blutprobe entnommen wurde. Mit einer Blutuntersuchung hätte man mögliche andere Todesursachen wie eine Vergiftung ausräumen können. Nachholen konnte man die toxikologische Untersuchung nicht mehr: Die Schwester von Priklopils Geschäftsfreund Ernst H. habe rasch die Einäscherung Priklopils veranlasst, so Jurist Rzeszut in seinem Bericht.
[B]Punkt 5: Das Verhalten von Priklopils Geschäftspartner Ernst H.[/B]
Jurist Rzeszut findet das Verhalten von Priklopils Geschäftspartner Ernst H. am Todestag höchst verdächtig: Die Polizei habe Ernst H. an diesem Tag auf Priklopils Anwesen angetroffen, als er gerade einige Gegenstände von dort fortschaffte. Eine Polizistin habe zu Protokoll gegeben, dass Priklopil in Schweiß ausbrach und zitterte, als die Beamten eintrafen. Er habe spontan gefragt: „Hot er’s umbrocht?“ Dies könnte sowohl als „Hat er sie umgebracht?“ oder als „Hat er sich umgebracht?“ interpretiert werden. Die Frage kam, bevor die Polizisten ihn über den Selbstmord seines Freundes unterrichteten. Wusste Ernst H. also schon, dass Priklopil tot war? Oder dachte er, Priklopil habe sein Entführungsopfer Natascha Kampusch getötet?
Beides würde seine Aussage bei der Polizeivernehmung seltsam erscheinen lassen: Ernst H. behauptete nämlich zunächst, Prikopil habe ihm nichts von der Entführung gesagt, sondern behauptet, er sei wegen eines Verkehrsvergehens auf der Flucht vor der Polizei. H. stritt später ab, die Frage gestellt zu haben. Laut Jurist Rzeszut war die Polizeibeamtin aber sicher, sich nicht verhört zu haben.
Später änderte H. seine Aussage: Priklopil habe ihm am Tag seines Todes gebeichtet, Kampusch entführt und gefangen gehalten zu haben. Es gab bis zuletzt immer wieder Berichte österreichischer und Schweizer Medien, die H. mindestens eine Mitwisserschaft von Kampuschs Gefangenschaft unterstellten. Juristisch gilt dieser Verdacht aber als ausgeräumt: 2010 sprach ein österreichisches Gericht ihn vom Vorwurf der Begünstigung frei. Die Staatsanwaltschaft hatte H. zuvor vorgeworfen, seinen Freund Priklopil der Strafverfolgung entzogen zu haben, obwohl er von dessen Taten gewusst habe.
mit Agenturmaterial